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Die Eltern von Eline erzählen

Autorenbild: Francesca Pagano BischofFrancesca Pagano Bischof

Mit grosser Spannung, unzähligen Gedanken und Fragen und sogar einem Hauch Unsicherheit war ich auf dem Weg zu einem Interview. Es soll aus dem Leben einer Familie berichten, deren Kind mit dem Rett-Syndrom lebt. Arrangiert wurde dieses Gespräch durch die heilpädagogische Früherzieherin der Familie. Francesca Pagano hat sich zum Ziel gesetzt, mit ihrer beruflichen Erfahrung und den Erlebnissen ihrer Patienten, betroffene Familien zu unterstützen. In diesem Blog sollen Eltern zu Wort kommen, um mit ihrer Geschichte Andere zu stärken, Wege aufzuzeigen und Ressourcen sichtbar zu machen. Elines Familie ist die erste dieser Reihe und wir danken ihr von ganzem Herzen für ihren Mut zur Offenheit.


Natürlich hatte ich mich vorbereitet und alle medizinischen Informationen aufgesogen, welche die Suchmaschinen hergaben. Neben informativen Fakten erregten viele Aussagen

aber auch Angst und Sorge. Ich hatte keine Vorstellung, in welche Richtung dieses Interview

gehen wird, rechnete aber mit traurigen Fakten und einer Frau, die aufopfernd ihre Kraft und

Energie in ihr krankes Kind investiert.


Und dann ist er da, der Moment, in dem ich auf Karin treffe. Voller Elan betritt sie das Büro.

Ihre Augen strahlen Energie und Wärme aus und ihr Lächeln schafft es in Sekunden, meine

Unsicherheit und Bedenken wegzufegen. Ich bin überwältigt von ihrer Ausstrahlung und der

Lebenslust, die sie durch ihre Anwesenheit versprüht. Ich kann es kaum erwarten, ihre

Geschichte zu hören, die ich hier mit meinen Worten wiedergebe:


Das besondere Kind



Karin ist Mutter von zwei Kindern und eines davon ist, wie sie sagt, besonders: ein wunderbares fünfjähriges Mädchen, dass das Lächeln ihrer Mutter und, wie sich im Interview

herausstellt, auch ihre Offenheit geerbt hat. Eline lebt in einem kleinen Dorf. Zu ihrer Familie

gehören die kleine Schwester Svenja, ihre Eltern, Grosseltern, ein paar Hühner und Minusch,

das Pony. Eline liebt wildes Wetter und das Wasser, sie ist mutig, leidet an einem Gendefekt,

findet im Moment Schimpfwörter cool und ist sehr fröhlich. Eline kann aber auch wütend sein und schlecht gelaunt. Dann helfen Geduld und ihre Tiere – wie bei anderen Kindern auch.

Es geht ihr gut. Sie leidet nicht an epileptischen Anfällen, aber ihre Sprachentwicklung ist stark beeinträchtigt und sie ist motorisch sehr eingeschränkt. Längere Abschnitte kann Eline nicht selbstständig laufen. In ihren Möglichkeiten aber ist sie sehr aktiv. Sie hilft die Eier aus dem Stall zu holen, kann im Galopp auf Minusch reiten und liebt es, zu gireizlen. Ihr Wesen ist sehr lebendig. Im Kontakt wirkt sie aber eher leise. Man muss sich Zeit nehmen, wenn man sie verstehen möchte.

Im Restaurant geht Eline wie selbstverständlich die wenigen möglichen Schritte an den

Nachbartisch und kommuniziert auf ihre Weise mit den Gästen. Dass sie offen gegenüber

Fremden ist, erleichtert sehr die Therapiearbeit.


Die beste Therapeutin ist die Schwester


Karin schweift kurz ab. „Die beste Therapeutin ist aber die Schwester“ fügt sie lächelnd und

mit Stolz ein. Laut Karin ist sie ein wichtiges Puzzelteil in der Familie. Durch ihre kindlichen

Handlungen, die weder wertend noch analysierend sind, bringt sie die Normalität in ihre

Familie. „Für sie ist Eline einfach die Schwester. Punkt.“ Irgendwann hat Svenja aber fast zu

viel Verantwortung übernommen, denn ihr Denken und Handeln drehten sich mit der Zeit nur noch um Eline. Die Eltern haben Svenja dann bewusst ein eigenes Umfeld geschaffen. So hat sie zum Beispiel ihre Papi-Mami-Tage und besucht die Spielgruppe.


Was bringt es, wenn wir mehr wissen?


Bis zu Elines erstem Abklärungstermin vergehen Monate, die von einem bedrückenden Gefühl begleitet sind. „Es bedeutet eine unvorstellbare Überwindung“, sagt Karin, „sich

einzugestehen, dass mit dem eigenen Kind etwas nicht stimmt. Die damit verbundene Angst ist einfach zu gross.“ Zu dieser Zeit war Karin bereits mit Svenja schwanger. Die Frage stand für sie im Raum, was es ihnen bringt, wenn sie mehr wissen. Das Aufsuchen einer Genetikerin

sorgte bei ihr eher für die Angst, dass jede Handlung von Eline, jedes Ereignis und jeder

Atemzug nur noch unter Anbetracht der erfolgten Diagnose gewertet wird.


„Es ist doch egal wie es heisst und was es ist. Geändert werden kann nichts. Es ist unser Kind

und wir lieben es heiss und innig. Der Name ist für das Leben irrelevant. Genetik kann man

nicht ändern, man muss schauen, was man therapieren und wo man helfen kann, welche

Möglichkeiten man hat.“


Beim zweiten Termin, der für ein halbes Jahr später geplant war, war Svenja bereits auf der

Welt. Die Wartezeit bis zu diesem Termin war für die Eltern kaum zu ertragen und mit dem Warten auf Wunder geprägt. „Es war der Horror,“ sagt Karin „die Hoffnung, dass Eline bis dann doch noch aufholt und keine Symptome mehr zeigt, blieb bis zur letzten Minute.“


Die Gewissheit


Dann war er da – der gefürchtete Tag. Und mit ihm die Diagnose: Rett Syndrom. Der Boden

unter den Füssen war weg. Innerhalb einer Sekunde war alles anders. Die Hoffnungsbilder,

aufgebaut über Monate, fallen zusammen wie ein Kartenhaus. Leere; Angst. Die Aussicht auf

Verschlechterung war eine völlig neue Ausgangssituation. Karin erinnert sich: „Wollten wir das überhaupt wissen? Was bringt es, zu wissen, dass unser Kind zu achtzig Prozent unter Epilepsie leiden wird? Dass Eline ihre Hände irgendwann nicht mehr einsetzen kann?“

Für sie war das neue Wissen in diesem Moment kontraproduktiv. Doch mit der Zeit öffnete es die Augen. Es machte Platz für Elines Stärken. Dann folgte ein langer Weg. „Die Ängste

kommen in der Nacht“, sagt Karin „dann überrollen sie mich“. In solchen Momenten weckt sie ihren Mann. Er ist eher rational und lösungsorientiert. Sein WIR und Elines ICH helfen Karin durch jedes Tief. Ihr Mann war es auch, der Karin auf dem Heimweg nach der Diagnose aus dem Sog holte. Ganz einfach und unkompliziert mit den Worten: „Hey, sie hat eine normale Lebenserwartung. Was wollen wir mehr…“. Mit der Zeit entwickelten sie eine derart

bejahende Lebenseinstellung, dass es ihnen möglich wurde, grosse Steine in ihrem Weg

einfach zu umgehen. Das Eline nicht gut laufen kann, ist kein Grund für sie, nicht wandern zu

gehen. Dann wird sie eben getragen. Und warum sollen sie nicht in die Ferien fahren. Ärzte

gibt es überall und der Notfallkoffer ist immer parat. Also warum soll man nicht wegfahren,

etwas ausprobieren, Spass haben. LEBEN.


Nur ein Teil von ihr ist krank


Ich bin unglaublich fasziniert von dieser positiven Einstellung und frage Karin, wie das möglich ist, wie sie die letzten Jahre erlebt und was geholfen hat.


„Oh das ist ganz simpel“ sagt sie, „einfach Liebe. Eline ist ja ganz viel Eline. Nur ein Teil von ihr ist krank.“


Karin erinnert sich, dass sie am Anfang allen möglichen Vereinen beigetreten sind, alles

gelesen haben, was das Internet hergab und so in einem Durcheinander von Informationen

gelandet sind. Als Elines Eltern erkannt haben, dass jedes Kind und jeder Verlauf anders sind, wurde ihr Weg rationaler und sie gingen als Team gezielt auf Lösungssuche: welche Therapien sind sinnvoll, welche Hilfsgeräte gibt es?

Bewusst haben sie sich entschieden, nicht zu viele Therapien gleichzeitig zu absolvieren und

konzentrieren sich bis jetzt auf die heilpädagogische Früherziehung, sowie die Logopädie, mit dem Schwerpunkt unterstützte Kommunikation (UK). Unter Anleitung der Fachpersonen

beantragten sie in diesem Zusammenhang einen Sprachcomputer für Eline, der, nach einer

sehr langen Wartezeit, nicht mehr von ihr wegzudenken ist. Sie liebt dieses Teil. Schnell hat

Eline gelernt, wie die Zusammenhänge funktionieren und wie toll das ist, wenn sie zeigen

kann, dass sie nicht das rote, sondern das blaue Schoggi-Ei will. Oder das sie schlecht gelaunt ist und zu den Hühnern möchte. Karin lächelt, als sie darüber berichtet. Aber das beste ist, dass sie sogar den Hütemeitlis, die Elines Körpersprache nicht so gut lesen können wie ihre Familie, damit zeigen kann, das sie Lust auf Pizza hat.



Hilfe und Vertrauen


Ganz wichtig ist, sagt Elines Mutter, dass man bereit ist, Hilfe anzunehmen und auch das

Vertrauen hat, einer externen Fachperson die Fäden in die Hand zu geben. Bei ihnen ist es

Elines heilpädagogische Früherzieherin, die diese Rolle übernommen hat. Sie kommt nicht nur einmal wöchentlich zur Therapie, sondern hilft auch als Begleitperson von aussen die

Übersicht zu behalten, Fachpersonen zu finden und Angebote zu filtern. Mit ihr haben die

Eltern gelernt, sich auf sich selbst zu konzentrieren, nicht zu viel zu vergleichen und somit

Energie zu sparen.


Elines Familie hat es geschafft, wieder Lebensfreude zuzulassen. Laut Karin wurde ihnen

deutlich, dass jede Situation endlich ist und sie haben sich bewusst entschieden, diese in allen Höhen und Tiefen als Team leben zu wollen. Gezielt haben sie sich um Lösungen bemüht und Therapiemöglichkeiten gesucht, die im hier und jetzt helfen. Damit die Hauptverantwortung geteilt wird und nicht an einem Elternteil hängt, haben sich Beide ausserdem für Teilzeitarbeit entschieden. Und sie leben. Im letzten Jahr ist die Familie für drei Monate auf Reisen gegangen. Natürlich gut vorbereitet und durchgeplant. Mit dem Camper, einem Notfallrucksack und zwei glücklichen Kindern im Gepäck.


Die anfängliche Angst, dass die Diagnose dauerhaft wie ein Schleier über der Familie hängt,

hat sich nicht bestätigt. Die schlimmen Momente werden seltener und der Schleier löst sich

Stück für Stück auf. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Es brauchte Zeit, Arbeit und Mut:

immer wieder aufstehen, nach vorne schauen und Lösungen suchen, Vertrauen haben und die Freude am Leben nicht vergessen.



Interview und Text: Maren Brunner, die-WortMacherei.ch

im Auftrag für Kinderstark

 
 
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